Poesie
Die Begegnung
Wie jeden Morgen öffnete ich weit die Flügel meiner Balkontür, trat ins Freie und holte tief Luft. Der kühle Morgenwind blies mir ins Gesicht und ich verspürte einen Schauer über meinem ganzen Körper. Mich fröstelte leicht. Schnell zog ich mich an und verließ das Haus ohne vorher in den Spiegel geschaut zu haben.
Die Wolken zogen schnell vorüber, ich vermutete, es würde bald regnen.
Zügig ging ich die Straße entlang um den Geräuschen der wach werdenden Stadt zu entfliehen. Trotz der kühlen Temperaturen tat der morgendliche Spaziergang gut.
Ich bog in den kleinen Feldweg ein, der mich zu dem Waldstück führte, das ich so liebte. Hier konnte ich zur Ruhe kommen, alles von mir lassen. Hier konnte ich meine Gedanken fassen und die Stille genießen.
Da sah ich sie: auf der von der Witterung und durch die Jahreszeiten gezeichneten Holzbank saß eine ältere Frau. Auf ihren Gehstock gestützt blickte sie auf den kleinen See, der vor ihr lag.
Noch nie zuvor hatte ich sie gesehen.
Vorsichtig trat ich zu ihr und setzte mich neben sie. Sie schien mich zu bemerken, reagierte aber nicht.
Ein Seufzer ließ mich zu ihr blicken und so bemerkte ich, dass sie die Augen nun geschlossen hatte. Noch immer beide Hände auf den Stock gestützt, sagte sie: „Hier sind wir uns begegnet, hier will ich Abschied von ihm nehmen.“
Verunsichert, ob ich antworten oder sie alleine lassen sollte, sah ich sie an. Ich setzte zum Gehen an und wollte ihr sagen, dass ich sie lieber in Ruhe lasse, da wand sie ihren Blick zu mir wie den einer alten Freundin und hielt mich zurück: „Nein! Bleiben sie! Sie stören nicht! Wenn es ihnen nichts ausmacht, können sie gerne bleiben.“
Sanft ließ ich mich zurück auf die Bank fallen und lächelte die Dame an.
Ihr Gesicht war von Falten übersät, ihre Augen lagen tief. Ihre zierliche Statur wirkte zerbrechlich und das kurze, weiße Haar war perfekt zurück gekämmt. Sie strahlte Ruhe und innere Stärke aus, ihre Augen leuchteten zufrieden.
Sie lehnte den Gehstock an die Bank zu ihrer Rechten. „Ich musste noch einmal hierher kommen. Und nun, da ich hier bin, frage ich mich, warum wir das nie gemeinsam taten. Vielleicht hätte ihm das geholfen.“ Ihre Stimme war sanft und zitterte leicht.
Sie faltete ihre Hände. Ein großer Bernsteinring zierte ihren linken Ringfinger und ließ sie sehr damenhaft wirken.
Es begann leicht zu regnen. Jeder Tropfen zog kleine Kreise in dem See. Wir saßen da und schauten einfach nur zu, wie die Glätte des Sees durch die Tropfen hundertfach gebrochen wurde.
Ich weiß nicht, wie lange wir dort saßen. Der Regen störte uns nicht und wir genossen die zweisame Ruhe.
Sie inhalierte den Augenblick wie ich: die Ruhe, die eigenen Gedanken, die Nähe eines Menschen.
Irgendwann griff sie nach ihrem Stock und erhob sich langsam. Den Blick nicht vom See wendend sagte sie: „Lassen Sie nie jemanden, den Sie lieben, gehen, ohne es ihm gezeigt zu haben!“
Ich sah sie an. Einen Moment noch war sie mit ihrem Blick in dem See versunken, dann schritt sie fest entschlossen auf den Waldweg zu, der zurück in die Stadt führte. Lange schaute ich ihr nach. Noch als nichts mehr von ihr zu sehen war, starrte ich auf den Weg, auf dem sie gegangen war.
Alles in mir wollte ihr nachlaufen, sie nach ihrem Namen, ihrer Geschichte fragen. Aber ich wusste: alles, was sie zu sagen hatte, hatte sie gesagt.
Ich habe diese Frau nie wieder gesehen. Die Begegnung mit ihr werde ich nie vergessen.
Noch oft bin ich in aller Frühe an den See gegangen, in der Hoffnung, sie dort zu treffen.
Dann sitze ich da und denke über die wenigen Worte nach, die sie gesagt hat. Denn sie bedeuten mir alles.
Zeit
Man sagt, Zeit heilt alle Wunden. Aber ist das wirklich so? Ich denke nicht. Denn dann würde Zeit ein vielgepriesener Allesreiniger sein oder so eine Art Cortison, ein Allheilmittel. Zwar mit ein paar widerlichen Nebenwirkungen, aber immerhin. Die Symptome für Schmerzen und Krankheiten würden komplett verschwinden. Leider ist das nicht so.
Ich denke, es ist wichtig, Zeit mit Weisheit zu koppeln, mit Einsicht, mit Vergebung und mit den richtigen Entscheidungen. Dann tut die Zeit das ihre dazu.
Verbinde ich Zeit jedoch mit Selbstmitleid, hartherzigem Egoismus und Hass, dann wird sie mir niemals das geben, was ich von ihr erwarte oder was ich mir wünsche. Ich werde niemals frei sein können von dem, was mir das Herz schwer macht oder mich bedrückt, was mir weh tut oder weh getan hat.
Wieso schmerzen gewisse Erinnerungen noch nach Wochen, Monaten, manchmal sogar nach Jahren? Ich denke, weil ich die Zeit, die ich hatte, nicht sinnvoll genutzt habe. Nicht effektiv genug. Vielleicht habe ich mich gehen lassen. Zu viel nach hinten gesehen, und neuem keine Chance gegeben. Vielleicht habe ich durch Vorwürfe gegen andere mich selbst von (Mit-)Schuld befreien wollen und mich so aus der Affäre gezogen. Vielleicht habe ich Tatsachen ignoriert, die eigentlich klar waren, ich sie aber nicht sehen wollte. Vielleicht bin ich auf Altem herumgeritten und habe schon längst Verdautes immer wieder hoch geholt und mit jedem Mal schmeckte es bitterer.
Ich weiß es nicht. Aber ich denke, die Zeit alleine macht aus mir ein unausstehliches Biest, das nur darauf wartet, wieder verletzt und enttäuscht zu werden, so, wie es in der Vergangenheit immer gewesen ist.
Aber das zeigt mir, dass Wunden noch nicht geheilt sind. Noch lange nicht. Mein Glaube und meine Zuversicht haben mich immer über Wasser gehalten, mich immer wieder zum Lachen gebracht und mir ein fröhliches Herz bewahrt. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie mein Herz geheilt haben.
Wann bin ich denn eigentlich geheilt? Wenn ich wieder vertrauen kann? Mein Herz wieder öffnen kann? Wenn ich wieder Tränen lachen kann? Ich denke nicht. Ich denke, ich bin dann geheilt, wenn mir die Vergangenheit gegenüber steht und ich ihr entgegenlächeln kann, ohne dass auch nur ein Hauch von Frust, Bitterkeit, Ärger oder Zorn in mir zu finden sind. Davon bin ich weit entfernt. Und dem muss ich mich stellen.